Wenn TikTok & co. zur Therapiecouch wird
Kurze Clips über mentale Gesundheit boomen auf TikTok. Unter Hashtags wie #mentalhealthtips oder #ADHS teilen Influencer persönliche Erfahrungen und vermeintliche Expertentipps. Das kann inspirierend sein, aber oft auch irreführend. ADHS auf TikTok ist zum Beispiel ein Trendthema mit Millionenpublikum. Doch was ist dran, wenn TikTok-Creator gängige Symptome aufzählen oder Therapieratschläge in 30 Sekunden verpacken?
In diesem Beitrag von findmetherapy nehmen wir gängige Mythen über Psychotherapie und psychische Gesundheit unter die Lupe, die in sozialen Medien kursieren.
Am Ende gibt’s einen persönlichen Appell und Hinweise, wo ihr echte Hilfe findet - Spoiler: TikTok ist es nicht.
Einerseits erreichen bekannte Creator Hunderttausende junge Menschen und vermitteln das Gefühl “Du bist nicht allein”. Andererseits zeigen neue Untersuchungen, dass viele dieser Inhalte inhaltlich falsch oder verzerrt sind.
Zwischen Aufklärung und Gefahr
Soziale Medien haben zweifellos einen Beitrag zur Enttabuisierung psychischer Gesundheit geleistet. Auf TikTok & Co. sprechen Betroffene offen über Depressionen, Angststörungen oder ADHS. Das schafft Gemeinschaftsgefühl und Verständnis, oft der erste Schritt, Probleme überhaupt als solche zu erkennen.
Eine Auswertung der Top-100 Mental-Health-Videos auf TikTok ergab, dass über die Hälfte Fehlinformationen oder grobe Mängel enthielten. Besonders drastisch zeigte sich das beim Trendthema ADHS: Von knapp 100 beliebten TikToks zu ADHS waren über 50 % fachlich falsch. Statt fundierter Fakten dominieren oft persönliche Anekdoten, plakative Behauptungen und schnelle Tipps. Normale Gefühle werden pathologisiert, als sichere Anzeichen für eine Störung dargestellt.
Ein Beispiel aus einem TikTok-Clip: “Wenn du schon mal dein Handy gesucht hast, obwohl es in deiner Hand war, klassisches ADHS!” Sicher, Vergesslichkeit kennen viele von uns, aber ist das gleich ADHS? Solche Vereinfachungen sammeln auf TikTok Millionen Likes, verzerren aber das Verständnis dafür, was eine echte psychische Störung ausmacht.
Warum ist das problematisch? Zum einen können kurze Videos die komplexe Realität therapeutischer Arbeit kaum abbilden. “Aufmerksamkeitstarke Soundbites überschatten die nuancierten Realitäten qualifizierter Therapie,” warnt etwa Dr. David Okai, Neuropsychiater am King’s College London.
Zum anderen fühlen sich Zuschauer vielleicht zu sehr angesprochen: Wer ohnehin mit Problemen kämpft, erkennt sich in den TikTok-Videos wieder und diagnostiziert sich kurzerhand selbst. So verstärkt sich der Glaube, man habe diese oder jene Störung und das ohne professionelle Abklärung. Die sozialen Medien werden zur Selbstbedienungs-Diagnose, mit erheblichen Risiken, wie wir gleich sehen werden.
TikTok empfiehlt gegen Angstzustände unter anderem, eine Orange unter der Dusche zu essen. Klingt schräg? Ist es auch.“ Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg, dass Zitrusfrüchte im Duschstrahl Angst lindern,” kommentiert Dr. Okai trocken und warnt vor immer wunderlicheren Selbsthilfetrends.
Das Grundproblem liegt darin: Zwischen sinnvollen Tipps mischen sich auf TikTok auch gefährliche Halbwahrheiten. Schauen wir uns also die größten Mythen genauer an und was Wissenschaft und Expert:innen dazu sagen:
Mythos 1: “Plötzlich hat jeder ADHS” - Trend oder Tatsache?
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) erlebt auf TikTok einen wahren Hype. Wer durch den #ADHS TikTok-Feed scrollt, bekommt das Gefühl, halb TikTok befinde sich in ADHS-Therapie. Creator berichten von Chaos im Alltag, verlegten Schlüsseln, Cola im Kaffeebecher, chronischer Unpünktlichkeit und tausende User nicken: “Same here, hab wohl auch ADHS!”. Der Eindruck: ADHS ist überall. Handelt es sich also um eine grassierende Unterdiagnose, die endlich ans Licht kommt? Oder um eine Mode-Diagnose, die inflationär benutzt wird?
Fakt ist: ADHS wird mittlerweile tatsächlich häufiger diagnostiziert, aber nicht, weil es “ansteckend” ist oder plötzlich alle es hätten. Die Zunahme liegt an gestiegener Aufmerksamkeit für die Symptome, nicht an einer Modeerscheinung, betont der Psychotherapeut Umut Özdemir. Jahrelang galt ADHS als “Jungen-Sache”, heute wissen wir, dass sich ADHS bei Mädchen und Erwachsenen oft anders zeigt und deshalb früher übersehen wurde.
So gesehen hat TikTok etwas Gutes: Es schärft das Bewusstsein und viele Betroffene.
Der Psychiater Dr. Eike Ahlers warnt vor einer “Bagatellisierung durch solche Posts”: ernste Beeinträchtigungen würden heruntergespielt. Gleichzeitig könnten skeptische Stimmen sagen: “Ach, ADHS, das redet man sich heut ein, weil’s auf TikTok cool ist.” Betroffene laufen so Gefahr, nicht mehr ernst genommen zu werden, obwohl ADHS für sie erheblichen Leidensdruck bedeutet.Doch zugleich gilt: Nicht jedes Konzentrationsloch, jede Verpeiltheit im Alltag ist gleich ADHS.
Viele virale Clips erklären völlig normale Erfahrungen zum Krankheitsbild. So fanden Forscher in einer Studie, dass rund 68 % der angeblichen “ADHS-Symptome” auf TikTok in Wahrheit allgemeine menschliche Erfahrungen sind. Mit anderen Worten: Was in den Videos als eindeutiges ADHS-Anzeichen verkauft wird, könnte genauso gut an Stress, schlechter Laune oder anderen Ursachen liegen oder schlicht normal sein. Nur knapp die Hälfte der präsentierten Symptome entsprach tatsächlich den klinischen ADHS-Kriterien.Kein Wunder also, wenn plötzlich jede:r sich ein bisschen als “ADHSler” fühlt.
“Manche merken erst durchs Scrollen, dass es ihnen anders geht als vielen anderen. Ohne diesen Verdacht würden sie nie eine Therapie in Erwägung ziehen,” sagt Özdemir.
Psychotherapie ist kein Instant-Heilmittel. Sie ist eher wie ein Fitnessprogramm für die Psyche: Du musst schwitzen, dranbleiben und manchmal tut’s weh, bevor es besser wird.
Mythos 2: “Therapie funktioniert bei mir nicht”
In sozialen Medien sehen wir häufig extreme Geschichten: Entweder Wundergeschichten, wo jemand nach 3 Sitzungen wie neugeboren ist, oder Horrorgeschichten von inkompetenten Therapeut:innen. Verständlich, dass man da falsche Vorstellungen entwickelt. Die Wahrheit liegt meist in der Mitte. Kein TikTok-Video erzählt dir aber vom monatelangen Ringen mit inneren Widerständen oder davon, dass es auch mal Rückschritte gibt, das bringt ja keine Likes.
Fakt ist: Studien zeigen, dass Psychotherapie bei einer Vielzahl von psychischen Erkrankungen wirksam ist, teils so wirksam wie Medikamente, je nach Fall. Aber die volle Wirkung entfaltet sich nur, wenn man dabeibleibt.
Tatsächlich brechen zwischen 20 % und 50 % aller Menschen ihre begonnene Psychotherapie vorzeitig ab. Fast die Hälfte sieht also nie den vollen Nutzen, schlicht weil sie vorher hinschmeißen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Oft sind es ganz praktische Hürden wie Terminprobleme, lange Anfahrtswege oder Kosten. Manchmal passt die Chemie mit dem Therapeuten nicht auf Anhieb. Oder, und das ist wesentlich, man hat erwartet, nach zwei Sitzungen “geheilt” zu sein und ist frustriert, dass dem nicht so ist.
Hier spielen TikTok & Co. leider eine Rolle: Die sofortige Gratifikation, die wir von schnellen Tipps gewohnt sind, verträgt sich schlecht mit dem langsamen Prozess einer Therapie. Ein virales Reel verspricht “Befreie dich in 5 Schritten von deiner Angst”, warum also 5 Monate in Therapie gehen? Viele Ratsuchende kommen mit dieser mentalen Stoppuhr in die Behandlung.
Wenn nach ein paar Wochen kein durchschlagender Erfolg spürbar ist, wächst die Ungeduld. Doch Therapie ist individuell verschieden und selten linear. Manchmal braucht es Zeit, bis sich Fortschritte zeigen, die aber dann nachhaltig sind.
Fazit zu Mythos 2: Therapie funktioniert, aber nicht ohne deine Mithilfe und Geduld. Erwarte keine Wunder über Nacht. Gib dem Prozess Zeit und sei ehrlich zu dir selbst: Hast du wirklich nichts aus den Sitzungen mitgenommen, oder braucht es nur mehr Übung, bis sich Erfolge zeigen?
Therapie ist kein Netflix-Binge, eher eine Staffel für Staffel Entwicklung mit Cliffhangern. Bleib dran, die Auflösung lohnt sich!
Mythos 3: Wenn Fachsprache zum Trend wird
Neben ADHS gibt es noch zahlreichePhänomene Pop-auf Social Media, die für Verwirrung sorgen: Psychotherapeutische Begriffe und Diagnosen haben den Weg in den Alltagsslang gefunden, leider oft in entstellter Form. “Trigger”, “toxisch”, “narzisstisch”, “Trauma”, Wörter, die ursprünglich präzise Bedeutungen in Psychologie und Psychotherapie hatten, werden auf TikTok und Instagram inflationär benutzt. Plötzlich ist der Exfreund “narzisstisch”, nur weil er Schluss gemacht hat. Oder man bezeichnet sich nach einem stressigen Arbeitstag halb scherzhaft als “traumatisiert”.
Klar, ein bisschen augenzwinkernder Sprachgebrauch ist menschlich. Problematisch wird es, wenn ernsthafte Begriffe verwässert oder falsch verstanden werden. Therapeutischer Jargon avanciert zum Trend, aber ohne den Kontext kann er mehr schaden als nützen. Der Guardian stellte fest, dass “Misusing therapeutic language” einer der Haupt-Trends in falschen TikTok-Mental-Health-Videos ist.
Auch verbreitet: Unevidente “Therapien” und Wunderheilungen. In sozialen Medien kursieren Tipps, die von harmlos wirkungslos bis gefährlich reichen. Vom Vitaminpräparat gegen schwere Depression bis zur DIY-Konfrontationstherapie in Eigenregie, es gibt nichts, was es nicht gibt.
Was können wir daraus lernen? Zum einen: Nur weil jemand auf Instagram 100k Follower hat und eloquent über innere Kindarbeit spricht, ist er oder sie nicht automatisch kompetent. Die meisten berufen sich auf “Lebenserfahrung” oder nennen sich Coach, einige haben auch einfach keine Angaben zu ihrer Qualifikation. Trotzdem wirken sie auf Laien wie Autoritäten.
Dieses Autoritätsproblem in sozialen Netzwerken erfordert kritisches Mitdenken von uns Nutzer:innen: Schau genau hin, wer da spricht, warum er das tut (Anerkennung? Verkauf?) und wie belegt seine oder ihre Aussagen sind.
Übrigens haben viele seriöse Expert:innen längst reagiert: Es gibt inzwischen Psychiater, Therapeuten und Wissenschaftskommunikatoren, die selbst auf TikTok und Instagram aufklären, mit Faktenchecks, Mythen-Fakten-Formaten und ehrlichen Einblicken in Therapieverläufe. Die Forschung empfiehlt genau das: Fachleute sollten in sozialen Medien präsenter sein, um den vielen Fehlinfos etwas entgegenzusetzen.
Unterstütze verlässliche Kanäle, wenn du sie findest, und teile deren Inhalte.
findmetherapy hilft dir raus aus dem Social-Media-Dschungel
Vielleicht erkennst du dich in manchen beschriebenen Situationen wieder, das heißt nicht, dass mit dir “etwas nicht stimmt”, aber es heißt auch nicht, dass du allein klarkommen musst. Im Gegenteil! Hab keine Angst vor falschem Alarm: Profis nehmen dich ernst, selbst wenn am Ende keine große Diagnose steht. Und falls doch, umso besser, dass du es hast abklären lassen.
Ein Wort zu Therapieplätzen: Ja, es kann frustrierend sein, einen Platz zu finden, das wissen wir. Doch es gibt Wege und Hilfsangebote, die Wartezeit zu überbrücken. Und genau da möchten wir dich unterstützen. findmetherapy hat es sich zur Aufgabe gemacht, genau diese Brücke zu bauen, zwischen Ratsuchenden und passenden Therapeut:innen. Wir helfen dir, schneller einen Therapieplatz zu finden, der zu dir passt, ohne endlose Telefonate und Warterei.
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Bleibt skeptisch gegenüber schnellen TikTok-Diagnosen, aber bleibt offen für echte Hilfe. Deine mentale Gesundheit ist kein Trend, sondern ein Teil von dir, der Fürsorge und fachkundige Unterstützung verdient. In diesem Sinne: Mythen haben kurze Beine, hol dir lieber wirkungsvolle Hilfe und mach den ersten Schritt hin zu deinem eigenen Weg der Besserung. Gemeinsam schaffen wir es! 🧡
Quellen:
The Guardian: More than half of top 100 mental health TikToks contain misinformation, study finds https://www.theguardian.com/society/2025/may/31/more-than-half-of-top-100-mental-health-tiktoks-contain-misinformation-study-finds (abgerufen am 14.10.2025)
• The Guardian: What is the most common mental health misinformation on TikTok? https://www.theguardian.com/technology/2025/may/31/what-is-the-most-common-mental-health-misinformation-on-tiktok (abgerufen am 14.10.2025)
• JMIR Infodemiology: TikTok as a Source of Health Information and Misinformation for Adolescents and Young Adults https://infodemiology.jmir.org/2024/1/e54663/ (abgerufen am 14.10.2025)
• Harvard Law: Petrie-Flom Center- Dr. TikTok? The Impacts of Misinformation on Mental Health Self-Diagnosis https://petrieflom.law.harvard.edu/2025/04/02/dr-tiktok-the-impacts-of-misinformation-on-mental-health-self-diagnosis/ (abgerufen am 14.10.2025)
• PubMed Central (PMC): Deconstructing TikTok Videos on Mental Health: Cross-sectional Study m https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC9164092/ (abgerufen am 14.10.2025)
• Apotheken Umschau: Interview mit Umut Özdemir: „ADHS auf TikTok – warum die Selbstdiagnose so verlockend ist“ https://www.apotheken-umschau.de/ (abgerufen am 14.10.2025)
• Helios Gesundheit: TikTok ersetzt keine Therapie (2024) https://www.helios-gesundheit.de/magazin/ (abgerufen am 14.10.2025)
• Österreichischer Bundesverband für Psychotherapie (ÖBVP): Psychotherapie im digitalen Raum https://www.psychotherapie.at/ (abgerufen am 14.10.2025)
• Televero Health: Progress in Therapy Doesn’t Always Feel Like Progress and That’s Okay (o.D.): https://televerohealth.com/progress-in-therapy-doesnt-always-feel-like-progress-and-thats-okay/ (abgerufen am 14.10.2025)
• findmetherapy Blog: Erste Psychotherapie-Sitzung: So bereitest du dich richtig vor https://www.findmetherapy.org/psychotherapie-blog/erste-psychotherapie-sitzung-so-bereitest-du-dich-richtig-vor (abgerufen am 14.10.2025)
• findmetherapy FAQ: Was ist findmetherapy und wie funktioniert es? https://www.findmetherapy.org/ (abgerufen am 14.10.2025)